Das ist die offizielle Homepage von Ewa Jagaciak (Schriftstellerin und Poetin)

Beiträge mit Schlagwort ‘Günter Grass’

In Gedenken an Günter Grass

Mit Günter Grass bei „Väterchen Frost“

Unterwegs nach Danzig 2014

 

„Was für ein verrücktes Märchen, nicht wahr? Wer würde schon die Tannenzapfen essen? Dafür kann man nur ein Eichhörnchen begeistern. Heute gehe ich lieber zu McDonalds und kaufe mir einen Big Mac. Nur träumen kann ich nicht mehr.“

 Väterchen Frost (дед мороз)

Dieses Jahr werde ich meinen fünften Geburtstag in dem Königreich des Väterchens Frost feiern. Es wird mir gelingen, wenn ich bis dahin nicht mehr gegen die Richtlinien der Mütterchen Russland und gegen die strengen, unmenschlichen Regeln im Arbeitslager verstoße. Seitdem ich mich erinnern kann, träumte ich davon dem Väterchen Frost und deren Tochter Schneeflocke zu begehen, weil sie im Schnee zaubernd meine Kinderträume wahr werden lassen. In Sibirien hatte Väterchen Frost große macht und Möglichkeiten. Deshalb wollte ich nicht mehr nach Afrika, seitdem ich von ihm gehört habe. Was hatte denn Afrika schon anzubieten? Eine Sandwüste mit einer Fata Morgana für die Verdursteten und Verirrten. Hier in Sibirien kann niemand verdursten, weil sich Sibirien bei einem Schneesturm in ein Tischlein deck dich verwandelt! Jetzt gerade fallen vom Himmel riesige Pfannkuchen  aus Schnee und knusprige Hagelkörner direkt in meinen Mund. Sie schmecken mir hier im Arbeitslager viel besser als ein frisch gebackenes saftiges Brot in meinem Zuhause. Dank Zaubereien des Väterchens Frost verwandelt sich der Schnee in einen leckeren Zuckerkuchen und die von der Hütte hängenden Eiszapfen in süßes Eis am Stiel. Sein eisiger Wind verzaubert diese endlose weise Landschaft in eine nahrhafte Milchstraße. All diese himmlischen Köstlichkeiten landen direkt in meinen leeren ausgehungerten Magen.

Ich genieße das Schlaraffenland bei  40-Grad Fieber auf einer Pritsche in dem Strafarbeitslager in Sibirien. Ich habe Typhus.

Hier wurde ich von der russischen Geheimpolizei, NKWD verschleppt, weil sie in mir Erzfeind der Sowjetunion erkannt hatte.

Das Mütterchen Russland war jedoch großzügig und gab mir die Gelegenheit meine Schuld abzuarbeiten im dem wunderbaren Königreich des Väterchen Frost. Dieser begegnete mich seit dem 13 April 1940 wahrhaftig in seiner ganzen Pracht.

Jeden Tag betete ich zu ihm um etwas Essbares. Nicht etwa um die warmen Stiefel oder eine warme Decke. Nein! Ich erwartete nur ein Stückchen Schwarzbrot oder wenigstens einen Krümel davon unter meinem Kissen zu finden.

Andere Wünsche verdrängte ich längst, weil dafür ein Henker drohte und nicht mal   das Väterchen Frost mich vor dem sicheren Tod wegzaubern könnte.

Nachdem ich ihn um schöne, warme Stiefel gebeten hatte und er mir ein paar zerfetzte Schuhe von meinem älteren Bruder herzauberte, wurde das Geschenk vom Lageraufseher streng untersucht, um  Reichtum – Epidemie auszuschließen. Als Lohn dafür musste ich eine Woche lang Wasser aus dem weitentfernten Fluss tragen, da ich nicht mehr barfuß war. Mein 4 Jahre älterer Bruder, liegt neben mir auf seiner Pritsche und betet zu Jesus ebenfalls um das tägliche Brot. Was für ein Dummkopf dieser Bruder!  Jesus hat doch kein Brot gezaubert, sondern nur  vermehrt! Ich versuche, ihn zu überzeugen, lieber das Väterchen Frost anzubeten, denn dieser hat hier in der grenzloser Schneelandschaft viel mehr Macht und Möglichkeiten, als Jesus. Und wenn das Väterchen Frost etwas Schneebrot herzaubert, so kann sein Jesus das Brot vermehren und das ganze Arbeitsstraflager sättigen. Ein paar Wälder von uns entfernt beten jüdische Kinder  um ein Stückchen Matzen und hinter dem Fluss in einer deutschen Siedlung speisen die Kinder das Brot so lange, bis auch sie in unserem Strafarbeitslager am 22 Juni 1941 landen, als Feinde und Nazi.

Ich wollte das Väterchen bei mir haben, auch nachdem der kurze Frühling seine Macht dahinschmelzen lässt, also verpfiff ich ihn als schneereichen Kapitalisten bei den Sowjets und hoffte auf seiner Verhaftung und Verschleppung in unser Lager. Reichtum war für die Sowjets ein Argument genug, um jedem antikommunistische und feindliche Agitation anzuhängen. Der sowjetische  Kommunismus hat nur Armut akzeptiert. Daher war damals die Sowjetunion, die Union der Armen. Die Sowjets haben leider bei dem Väterchen Frost versagt und mein Magen schrumpfte weiterhin auf eine Haselnussgröße. Aber wenigstens war ich noch am Leben. Hunger und Armut machte mich zu  ihresgleichen und aus diesem Grund wurde ich nicht erschossen. Das ganze Sowjetvolk hungerte damals ebenfalls. Dies war eine Art der gerechten Umverteilung in Übereinstimmung mit den Leitlinien der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Hunger, Kälte und Armut waren die Garanten unseres Lebens in UDSSR, Союз Советских Социалистических Республик.
Unser Lager war am Ende der Welt. Wir mussten unsere Paläste zuerst unter der Erde graben, um nicht zu erfrieren. Ein paar Holzbaracken haben wir danach gezaubert. Meine Träume zerplatzen wie eine Seifenblase und die Liebe zu Sowjets dafür, dass sie mich zum Väterchen Frost verschleppt haben ausbrannte. Oft lief ich aus der Baracke und rief laut die Schneeflocke um Hilfe. Und diese fiel auch vom Himmel direkt in meine Hände und schmolz dahin. Mit ihr schmolz meine letzte Hoffnung auf  Nahrungsquelle. Die  Sowjets haben mir verboten zu fischen, Pilze zu sammeln und zu jagen. Dafür gab ein Jahr im Loch. So habe ich notgedrungen auf andere Märchenfiguren zugegriffen in deren Rolle ich selbst schlüpfen musste. Da auch das Väterchen Frost sich im Frühling zurückgezogen hatte, war ich nur auf mich angewiesen. Ich entdeckte das Zauber „Sesam öffne dich“ und wurde zu Ali Baba und vierzig Räuber. Viele der Gefangenen suchten sich ein eigenes Zauber, oder ein Märchen aus, um zu überleben. Es wimmelte hier leider bald auch von bösen Zauberern und Dämonen, die sich gegenseitig auffraßen. Als Räuber raubte ich, was ich konnte. Ich raubte dem Wald die Bäume, den Bäumen die  Zweige und das Laub für Feuerholz, in dem ich Tannenzapfen gebraten habe. Ich raubte auch Baumrinde, aus der ich Sommersandalen gezaubert hatte. Das Moos, das ich dem Wald gewaltsam entrissen habe, verwandelte sich in eine warme Decke. Aus der erbeuteten Birkenrinde zauberte ich Gesichtsmaske, die mich vor dem eisigen Wind schützte. Erbeutete Himbeerblätter und Baumblätter wirkten bei Krankheiten wie ein Zauber. Als ich die Vorräte des Eichhörnchens und die Bärenhölle entdeckte, war das ein „Sesam öffne dich“.  Das schlafende Eichhörnchen und der Bär verloren ihr Fell und Fleisch. In diesem Märchenland des Väterchen Frost durfte ich nicht nur meine Sühne abarbeiten, sondern auch Zaubern, Verwünschen und viele überlebenswichtige Fähigkeiten entwickeln. Natürlich dank der Großzügigkeit des Батюшка, Batjuszkas  Stalin, der es mir erlaubte, dieses Märchenland am 13 April 1940 in Viehwagons zu betreten. Ich war einer von achthunderttausend Verschleppten. 1942 war das russische Märchen plötzlich zu Ende, weil mich der Feuervogel Жар-птица, Schar-Ptiza nach Teheran trug, in das warme Land der Scheherazade und Tausendundeiner Nacht, شهرزاد šahrzād. Von dort ging es weiter auf dem fliegenden Teppich nach Indien, danach  nach Uganda und Kenia in Afrika, wo ich bis 1948 mit achtzehntausend Gleichgesinnten und Massai in einem grünen Paradies auf Swahili weiter träumte, bis ich 1949 das Vereinigte Königreich Großbritannien und Kanada erreichte.

 

„Was für ein verrücktes Märchen, nicht wahr? Wer würde schon die Tannenzapfen essen? Dafür kann man nur ein Eichhörnchen begeistern. Heute gehe ich lieber zu McDonalds und kaufe mir einen Big Mac. Nur träumen kann ich nicht mehr.“